Dirty Dancing

Die zwei Seiten der Medaille

Dana Lafuente, Leiterin der Abteilung Mitarbeiterförderung

Als am 9.November 1989 die Mauer fiel, war ich in Strasburg im Kino, um „Dirty Dancing“ zu schauen.
Als am 9.11.1989 die Mauer fiel, war ich in Strasburg im Kino, um „Dirty Dancing“ zu schauen.
 Dana Lafuente
Dana Lafuente Leiterin der Abteilung Mitarbeiterförderung

Hätte es den 9. November nicht gegeben und ginge man davon aus, dass alles so weitergelaufen wäre, ohne technische Neuerungen, dann wäre ich jetzt Berufsschullehrerin für Schreibtechnik. Ich würde jungen Menschen den Zauber der Stenografie beibringen, sie die Diktatschrift lehren, mit der sie drei- bis fünfmal schneller hätten schreiben können, als mit der traditionellen Langschrift.

Am 9. November 1989 war ich 18 Jahre jung. Ich hatte im Sommer in meiner Geburtsstadt Prenzlau mein Abitur absolviert und befand mich im kleinen Städtchen Strasburg im ehemaligen Bezirk Neubrandenburg. Dort war ich ein Sonderfall. Ich hatte einen Arbeitsvertrag als Erzieherin im Lehrlingswohnheim. Gleichzeitig war ich Lehrling. Zu DDR-Zeiten musste man für ein Studium der Wirtschaftspädagogik von der Berufsschule an die Uni „delegiert“ werden. Normalerweise machte man zuerst eine Ausbildung und holte dann das Abitur nach. Bei mir war es umgekehrt, aber auch das ging. Mit Blick auf meine Abiturergebnisse wurde entschieden, dass ich die Ausbildung in einem statt in zwei Jahren schaffen sollte.

Sudel-Ede und der schräge Otto

Punkt sechs Uhr sorgte eine Sirene im Lehrlingswohnheim dafür, dass man im Bett stand, um 7 Uhr startete der Unterricht. Nachmittags hatte ich meine Pflichten als „Erzieherin“ zu erfüllen, die dankenswerterweise häufig in Büroarbeit mündeten. Allerdings war der Heimleiter und mein Vorgesetzter ein fürchterlicher Mensch. Ich sollte dafür sorgen, dass die Jugendlichen jeden Montagabend um 21.35 Uhr im Kulturraum erscheinen, um den „Schwarzen Kanal“ zu sehen. Ich dachte zunächst, das sei ein Witz, denn in Prenzlau schauten wir den Schwarzen Kanal höchstens als politisches Kabarett an. Es war Herbst 1989! „Sudel-Ede“, wie Moderator Karl-Eduard von Schnitzler republikweit genannt wurde, nahm kein Mensch ernst. Bis auf den Heimleiter in Strasburg. Wir führten Diskussionen, und ich habe noch sein Geschrei im Ohr. Alle hassten ihn, inklusive dem Reinigungspersonal. Einmal steckte eine Reinigungskraft ihren Kopf ins Büro und fragte, ob der schräge Otto da sei. Als ich verneinte, sagte sie mit großer Erleichterung: „Gott sei Dank, den sehen wir alle lieber von hinten als von vorn!“ Sie sprach mir aus der Seele, denn mir ging es nicht anders. Nichtsdestotrotz nahm ich mit großer Verwunderung Notiz davon, dass einige der Lehrlinge kein Bild ihrer Lieblingsbands wie Depeche Mode oder Duran Duran, Cindy Lauper, Wham oder meinetwegen auch Modern Talking über ihrem Bett zu hängen hatten, sondern in der Tat ein Bild von Sudel-Ede! Ich dachte zunächst, das muss ein Scherz sein. War es aber nicht. 

Es war aber wohl insbesondere eine Zeit der Chancen, die wir (Ex-DDRler) nicht genutzt haben.
 Dana Lafuente
Dana Lafuente Leiterin der Abteilung Mitarbeiterförderung

Zeit der Chancen

Als am 9.11.1989 die Mauer fiel, war ich in Strasburg im Kino, um „Dirty Dancing“ zu schauen. Als ich gegen 22 Uhr ins Lehrlingswohnheim zurückkehrte, stand eine völlig aufgelöste, weinende Ines aus dem 1. Lehrjahr auf der Treppe. Ich fragte sie: „Was ist los, warum weinst du?“ Und sie antwortete: „Stell dir vor: Die Mauer ist gefallen.“ Woraufhin ich erwiderte: „Aber warum weinst du dann?“ Und sie sagte: „Was wird denn jetzt passieren? Wird der dritte Weltkrieg ausbrechen? Wie lange wird das halten?“ Sie war zutiefst verunsichert und selbst bei denen, die diese Veränderung mit Freude zur Kenntnis nahmen, wird die Verunsicherung eine Seite der Medaille gewesen sein.
 
Es war aber wohl insbesondere eine Zeit der Chancen, die wir (Ex-DDRler) nicht genutzt haben, weil Geld die Welt regiert und wir „übernommen“ wurden. Wir haben uns aber in der Mehrheit auch „übernehmen lassen“. Das war mir spätestens dann klar, als wir unser Begrüßungsgeld abholen durften und es nun in der Masse mehrheitlich um den Konsum ging – um all jene Dinge, die wir vorher nicht hatten: von der Jeans über Zitrusfrüchte bis hin zu den Reisen ins vormalige kapitalistische Ausland. All die anderen wesentlich wichtigeren Dinge gerieten zu schnell in den Hintergrund einer grundsätzlich und vollkommen zu verdammenswerten Diktatur, die man komplett und schnell abstreifen wollte. Die Frage, wie wir diese Situation nutzen können, um „das Experiment DDR“ nicht sofort und umfänglich auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen, wie wir stattdessen die guten Dinge extrahieren und weiterleben, möglicherweise ausrollen können, wurde schnell nicht mehr gestellt.

Die Autorin im Jahr 1989.

Es macht mich nachdenklich, dass es 30 Jahre gedauert hat, bis man gesamtdeutsch erkennt, dass z.B. Kinderferienlager für eine gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie keine schlechte Idee waren und, dass Kinder keinen bleibenden Schaden nehmen, wenn sie auch schon vor ihrem 3. Lebensjahr einen Kindergarten besuchen. Heute strebt man nach Dingen, die man eigentlich vor 30 Jahren längst erreicht hatte, vom preiswerten öffentlichen Nahverkehr bis hin zur Ausbildung in Berufen, die die Gesellschaft dringend benötigte. Insbesondere auch ostdeutsche Produktherstellung ist ein Beispiel dafür, denn ihr entscheidendes Kriterium war die lange Haltbarkeit, mit der der heute vielfach beschworenen Nachhaltigkeit wohl eher gedient war.

Lauter Lametta

Für mich persönlich war die Bedeutung des Wortes eine fundamental neue Erfahrung: Konnte zu DDR-Zeiten ein falscher Satz bedeutende Konsequenzen nach sich ziehen, so galt in der BRD das gänzlich andere Extrem. Es interessierte schlicht niemanden mehr. Du hättest Dinge schreien oder gleich mit einer Wand reden können, es war egal – das war die Meinungsfreiheit! Nichts hat mich so verwirrt wie diese Tatsache. Und nichts hat mich so angestrengt, wie derart viel bedeutungsloses, aber wohlklingendes Blabla anzuhören. Es war so, als würde man vor lauter Lametta den darunterliegenden Weihnachtsbaum nicht mehr erkennen, weil er keine Rolle mehr spielte, es ging nur noch um das Lametta.
 
Und auch die Demokratie wollte gelernt werden. Mit dem Nachteil der Dauer von Entscheidungen, denen ein partizipativer Prozess vorausgeht. Aber dem Vorteil, dass diese Entscheidungen dann auch breit getragen werden. 
 
So haben wohl fast alle Dinge im Leben, wie die Medaille, zwei Seiten.

 

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