Pionierausweis

Freiheit und Vorurteile

Dr. Sandra Krull, Leiterin des Postdoc Office

Ich bin in Potsdam geboren und im Ostberliner Umland aufgewachsen. Zum Zeitpunkt des Mauerfalls ging ich in die sechste Klasse und war Thälmann-Pionier (eine der DDR-Jugendorganisationen). Der Tag des Mauerfalls war natürlich spannend, von Aufregung und Unsicherheit begleitet, und niemand konnte uns Kindern so recht erklären, was er für unsere Zukunft bedeuten würde.

Der Pionierausweis der Autorin, ausgestellt im Jahr 1987.

Mein Eindruck damals war, dass für die Erwachsenen eine anstrengende Zeit begann. Meine Mutter war promovierte Pädagogin und entwickelte neue Lernmethoden für Studenten. Ihre Hochschule wurde geschlossen und das gesamte Personal entlassen. Meiner Schwester wurde mitgeteilt, dass ihr bisheriges zweijähriges Studium nicht mehr anerkannt würde, und dass sie wieder von vorne beginnen müsse. In meiner Schulklasse berichteten Mitschüler, dass ihre Familien plötzlich ihr Eigenheim räumen mussten. Es gab Rückübertragungsansprüche westdeutscher Erben. Unsere Ersparnisse schrumpften, als sie zum Kurs 1:2 in die westliche Währung umgetauscht wurden. Für mich als Kind waren all diese Dinge nur schwer nachvollziehbar.

Einzig für meinen Vater war der "Westen" kein völliges Neuland. Bereits 1988 hatte er vorübergehend in Westberlin gearbeitet. Als Sprengmeister des Munitionsbergungsdienstes der DDR war er damit beauftragt, für eine Grenzbegradigung zwischen Ost- und Westberlin die Vermessungspunkte nach Kampfmitteln (Bomben, Granaten, Munition) abzusuchen. Hierfür bekam er ein Verpflegungsbudget in "Westgeld" zur Verfügung, das er stattdessen in Geschenke für uns Kinder investierte. 

Nach der "Wende" war lange unklar, ob der staatliche Munitionsbergungsdienst bestehen bleiben würde. Dass alle Mitarbeiter nach einer Überprüfung von dem Verdacht auf Stasi-Mitarbeit freigesprochen wurden, reichte nicht aus um den Arbeitsplatz zu garantieren. Mein Vater wechselte daher zu einer westdeutschen Firma, die Kampfmittelräumung betrieb und im Osten eine Filiale gründen wollte. Sein neuer Chef war insofern außergewöhnlich, als dass er der Meinung war, dass Mitarbeiter aus dem Osten genauso viel verdienen sollten wie Mitarbeiter aus dem Westen, und dass mein Vater die Niederlassung leiten sollte, obwohl er aus dem Osten war. Damit stellte dieser Chef damals eine große Ausnahme dar, und mein Vater ist der Firma bis zum Renteneintritt treu geblieben.

Für mich, die ich aus einem Umfeld kompletter Gleichberechtigung der Geschlechter kam, war das der ultimative Kulturschock.
Dr. Sandra Krull
Sandra Krull Leiterin des Postdoc Office

Ich hatte es in der Nachwendezeit von allen Familienmitgliedern am einfachsten, weil ich am jüngsten war. Für mich eröffneten sich zuvor ungeahnte Möglichkeiten. Mit vierzehn Jahren durfte ich auf Sprachreise nach England fahren. Ich erhielt alle Entwicklungsmöglichkeiten, ging zum Biologiestudium nach Süddeutschland. Hier traf ich zum ersten Mal auf Kommilitonen, die in einem für mich veralteten System großgeworden waren. Mitstudentinnen sagten Dinge wie: "Ich studiere nicht, um später zu arbeiten. Warum sollte ich arbeiten wollen? Ich habe doch einen Mann! Ich studiere nur, damit die Familie weiß, dass ich ein Diplom habe". Anfangs fiel es mir schwer zu glauben, dass solche Aussagen ernstgemeint waren. Aber dann traf ich immer mehr Kolleginnen, die offen zugaben, an der Uni eigentlich nur einen vielversprechenden Mann kennenlernen zu wollen, um dann anschließend mit den Kindern zuhause zu bleiben. Kinderbetreuung war Mangelware, da es selbstverständlich war, dass Frauen daheimbleiben würden. Für mich, die ich aus einem Umfeld kompletter Gleichberechtigung der Geschlechter kam, war das der ultimative Kulturschock. Ich konnte kaum glauben, dass dies im modernen Deutschland möglich sein sollte. 

Während ich von meiner Familie die Möglichkeit bekam, mich frei zu entfalten und dank der Reisefreiheit auch in Schweden und Frankreich zu arbeiten, waren die Verhältnisse "daheim" immer noch schwierig. Nach der "Wende" waren viele Betriebe und Institute in Ostdeutschland geschlossen worden. In den verbliebenen Einrichtungen wurden die kompletten Chefetagen mit Westdeutschen besetzt, oftmals mit Leuten, die im Westteil des Landes keine Karriere zustande gebracht hatten. Im Osten sollten sie nun allen zeigen, wie man es richtig macht. Der Begriff des "Besserwessi" begann sich durchzusetzen. Auch mein Chef in Heidelberg erklärte mir, dass "man den Ossis erstmal beibringen müsse zu arbeiten". Diese Art des Vorurteils hat sich lange gehalten, und auch heute noch sind Ostdeutsche in den Chefetagen Deutschlands unterrepräsentiert. Meine Hoffnung ist, dass sich das in den kommenden 20 Jahren endlich ändern wird. Auch weil die nächsten Generationen die DDR dann nur noch aus Geschichtsbüchern und ihrer eigenen Familienhistorie kennen werden.