Alexanderplatz-Demonstration 1989

Geist der Freiheit

Professorin Heike Graßmann, Administrative Vorständin

Das Jahr 1989, wie lange das zurückliegt. Und dennoch kann ich mich gut, sehr gut erinnern, wie das war damals: Lambada, Tiananmen-Platz, 40. Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik.

Was für ein Jahr. Ein Diskussionsjahr ohnehin. Und dann das, was sich erst rückblickend als Revolution erweisen sollte, nämlich die Ereignisse um den 7. Oktober 1989 herum, die dann in den 09. November mündeten. Bis dahin habe ich im Westen der DDR gelebt, nahe an der westdeutschen Grenze im Harz, aber eben im vormals sowjetisch besetzten Teil Deutschlands. Und gar nichts deutete darauf hin, dass sich daran jemals etwas ändern könnte. Bis zum Sommer 1989.

Zur Erinnerung an den Herbst 1989 blätterte die Autorin in ihrem Tagebuch.

Mich zu erinnern, dabei helfen mir meine Tagebücher, die ich in jener Zeit leidenschaftlich gern führte. Ich war fast 18 und hin- und hergerissen zwischen Teenagerproblemen und den politischen Ereignissen dieses Sommers. In meinem Tagebuch finde ich die Formulierung „innerlich so aufgewühlt“. Die großen Ferien – acht Wochen kleine Freiheit – gingen gerade zu Ende. Die Eindrücke vom Urlaub mit Schulfreunden an der Ostsee und in Potsdam und die schönen Wochen in meiner Heimatstadt Nordhausen waren noch ganz frisch, da schob sich etwas Anderes, Unerhörtes in den Vordergrund: Die Grenze eines „Warschauer Pakt“-Staates, Ungarns, zum kapitalistischen Westen war erst durchlässig und schließlich ganz geöffnet worden. Ungarn war damals eines der beliebtesten Reiseziele der DDRler. Auch viele meiner Schulkameraden waren in diesem Sommer dort im Urlaub. Immer mehr nutzten die Gelegenheit, um durch dieses Loch im Eisernen Vorhang zu fliehen; auch Geschwister von engen Schulfreunden sowie auch Nachbarn. Immer öfter machte ich mir Gedanken über meine Zukunft. In meinem Tagebuch lese ich: „Wird die DDR bald leer sein?“, „Es muss sich endlich was ändern, aber wann?“ Tja. Das ging dann schneller als erwartet. Eine echte Zäsur waren die Erlebnisse und Erfahrungen von Mitschülern, die an Demonstrationen in Leipzig kurz vor dem 07.10.1989 teilgenommen hatten. Ich begann nun, Schriften des „Neuen Forums“ zu lesen, beteiligte mich ebenfalls an Demonstrationen, sah freiwillig die „Aktuelle Kamera“, die tägliche Nachrichtensendung der DDR um 19.30 Uhr, und diskutierte mit Schulfreunden und Lehrern den ganzen Tag. Der festgefügte Rahmen meiner bis dahin beschaulichen Welt aus Schule, Handball und Unternehmungen im Freundeskreis war aus den Fugen geraten. An einen normalen Schulalltag war gar nicht mehr zu denken. Und das auch noch im Abschluss-, im Abiturjahr! Was schrieb ich damals? „Es geht nicht, dass ich anteilslos bin.“

Ich bin so froh, in der heutigen Zeit zu leben. Es ist so viel passiert in den letzten Tagen, ja Stunden! Ich bin ja so froh!
Heike Graßmann
Heike Graßmann Administrativer Vorstand

Am 06.11.1989 steht im Tagebuch: „Heute ist eine Vorlage für ein neues Reisegesetz gekommen.“ Der 09.11.1989 blieb ohne Eintrag. Rückblickend ist das vielsagend. Am 10.11.1989 dann pure Euphorie: „Ich bin so froh, in der heutigen Zeit zu leben. Es ist so viel passiert in den letzten Tagen, ja Stunden! Ich bin ja so froh! […] Die Ereignisse überstürzen sich. […] Gestern war ich bei einem Dialog in der ‚Halle der Freundschaft‘ über die Volksbildung – es wurde heiß diskutiert. Am Abend wurde verkündet, dass man jetzt reisen darf, wohin man will, d. h. auch in die BRD, nur mit einem Stempel im Pass. […] Was das Volk doch alles bewirken kann.“

„Was wird jetzt noch alles kommen?“

Was als Nächstes kam, ist uns allen heute hinlänglich bekannt. Die Zeit war aufwühlend, aufregend, alles schien möglich. Alles war irgendwie „Lambada“ und „Wind of Change“. Die alten Zöpfe mussten ab! Was hätte kommen können, das ist uns im Nachhinein erst so recht zu Bewusstsein gekommen. Mein Bruder war im Herbst ʼ89 noch obligatorischer Wehrdienstleistender, Soldat, bei der NVA, der Nationalen Volksarmee der DDR. So mischte sich doch immer einmal wieder die Sorge als trüber Schatten unter die helle Freude.

Nach einigen Wochen kam dann auch das gewöhnliche Teenagerleben wieder zurück; allerdings mit einer für uns wichtigen Veränderung: Die Schul-Woche hatte nur fünf Tage – schulfreier Sonnabend ab sofort. Den nutzten wir nun oft und fuhren ins nahegelegene Duderstadt und nach Bad Sachsa zu unseren ersten „West-Diskos“. Und: Es war endlich uns Harzern wieder möglich, den Brocken zu erwandern. Fast zwei Generationen hatten ihn lediglich aus der Ferne sehen können. Wir überdachten unsere Studienwünsche, vor allem auch die Studienorte. Und natürlich war das neue politische Mega-Thema die Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten, der Abzug der Russen aus Ostdeutschland, die künftige Nato-Mitgliedschaft Deutschlands. Alles schien in Bewegung, vieles auf dem Prüfstand, nichts unmöglich.

Meine Güte, 1989, wie lange das zurückliegt … Und heute? Heute bin ich dankbar für meine ostdeutsche Biografie. Dankbar auch für die Erfahrung des Herbstes ʼ89, Möglichkeiten, die wir waren, und dankbar für das, was wir nach 30 Jahren geworden sind. Ich bin dankbar für die gesamtdeutsche Perspektive, die zu erarbeiten mir erst der Herbst ʼ89 Gelegenheit gegeben hat, für die europäische und internationale Perspektive, die heute mein Leben ganz selbstverständlich prägt und bereichert. Der Herbst ´89 bedeutet für mich „Geist der Freiheit“. Und diesen Geist zu bewahren ist Arbeit, ist persönliche Verpflichtung; Verpflichtung dazu, gesellschaftlich wach und aktiv zu bleiben.

1989 hat einen langen Arm. Mein 09. November 1989 begleitet und prägt mich bis heute.

 

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