Fall der Berliner Mauer

Mauerspringer

Jutta Kramm, Leiterin der Abteilung Kommunikation

„Die Mauer muss weg“ – das haben am Abend des 9. November 1989 nicht nur viele Ost-Berlinerinnen und -Berliner gerufen. Auch auf der Westseite standen tausende Menschen an den Grenzübergängen und skandierten: „Macht das Tor auf."

Ich war in jener Nacht dabei. Nach der skurrilen Pressekonferenz von Günter Schabowski („Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich...“) war mir sofort klar gewesen: Das ist das Ende der Mauer. Damals war ich Journalistin bei der taz und hatte die Demonstrationen in Leipzig und all den anderen Städten, den DDR-internen Aufbruch und die Flüchtlingswelle intensiv verfolgt. Ich ging davon aus, dass viele DDR-Bürger noch in der Nacht die Chance nutzen würden, sofort rüber zu machen, und sei es nur für diese eine Nacht. 

Berlin im November 1989, erster Mauerdurchbruch am Potsdamer Platz: taz-Redakteurin Jutta Kramm als Handverkäuferin einer Sonderausgabe der Zeitung. Neben ihr posiert ein DDR-Grenzer. Es war das zweite Wochenende nach dem Fall der Mauer, und viele Menschen aus Ost-Berlin strömten an diesem Tag gen zum Einkaufen.

Und so stand ich gegen 21 Uhr – gemeinsam mit einer Handvoll Freunden, darunter mein heutiger Mann, mit dem ich damals in einer WG lebte – wie viele andere West-Berliner an den von DDR-Grenzern streng bewachten, verschlossenen und gesicherten Schleusen und Schlagbäumen in der Invalidenstraße. „Die Mauer muss weg!“ Hartnäckig schob und drängte die Menge immer weiter nach vorne. Irgendwann gab es auf beiden Seiten kein Halten mehr. Der Grenzübergang Invalidenstraße wurde am 9. November 1989 von Ost und West gestürmt. Wahnsinn. 

Was nun? Unsere kleine Gruppe machte sich auf Richtung Ost-Berliner Innenstadt. Ohne Pass, ohne Plan, ohne irgendeine Idee oder Gewissheit, wie oder ob wir überhaupt wieder zurück würden in den Westteil der Stadt. 

Während in dieser Nacht zehntausende Ost-Berliner gen Westen strömten, machten wir, ein kleines Häuflein aus West-Berlin, uns auf, die Revolution im Osten mitzuerleben. Wir zogen die Invalidenstraße hoch – an der Ecke Chausseestraße zückte einer aus der Gruppe eine Spraydose aus der Jacke und sprühte an eine Hauswand: „Tausche Wohnung in Kreuzberg, suche Wohnung in Prenzlauer Berg." 

Keiner von uns hat damals geahnt, wie hellsichtig das war. Prenzlauer Berg und Kreuzberg, das waren in den 80ern heruntergewirtschaftete, vernachlässigte Kieze der Mauerstadt. Auch deshalb waren beide Stadtteile Hort von Künstler-Gruppen und der grün-alternativen politischen Szene. Später wurden diese Stadtbezirke erste Symbole für Berlin-Hype und Gentrifizierung, aber auch für gelungene Sanierung, das Zusammenwachsen und die Internationalisierung Berlins.

Stille, nahezu menschenleere Straßen

Wir zogen weiter. Durch stille, nahezu menschenleere Straßen, die Friedrichstraße entlang, streiften vorbei am Berliner Ensemble und dem Brecht-Denkmal, über die Weidendammer Brücke mit dem Preußischen Ikarus, den Biermann besungen hatte. Es war wohl Mitternacht, als wir schließlich ans Brandenburger Tor kamen, das von der anderen Seite in gleißendes Licht getaucht war: Die internationalen Fernsehstationen waren live auf Sendung, und auf der Mauer bewegten sich menschliche Schatten, die die Arme hochrissen und feierten.

Leichtsinnig, ja abenteuersüchtig und so unüberlegt, wie man wohl nur in solch historischen Momenten ist, rannten wir unters Brandenburger Tor, auf die Mauer zu.
 Jutta Kramm
Jutta Kramm Leiterin der Abteilung Kommunikation

Auf der Ostseite aber glühten die gelblich braunen Laternen, vor dem Tor hatten sich bewaffnete Sicherheitskräfte postiert. Es war gespenstisch, unwirklich, still. Leichtsinnig, ja abenteuersüchtig und so unüberlegt, wie man wohl nur in solch historischen Momenten ist, rannten wir unters Brandenburger Tor, auf die Mauer zu. Den Augenblick, als ich zum ersten Mal unterm Tor stand, werde ich nie vergessen – ich schaute nach oben, sah die Reliefs. Das Tor war gewaltiger, als ich es erwartet hatte. Ich war beeindruckt von der Monumentalität dieses Bauwerks, von der Unfassbarkeit dieser Nacht. 

Leider erinnere ich mich nicht mehr genau, ob ich direkt danach von Osten aus auf die Mauer geklettert bin oder wenig später von der Straße des 17.Juni aus. Jedenfalls ließ ich mich gemeinsam mit anderen nach oben ziehen auf den kolossal hohen und überraschend breiten Wall – und jubelte, exakt an jenem Ort, den ich in meinen neun bisherigen Berliner Jahren ignoriert und nur aufgesucht hatte, wenn Gäste aus West-Deutschland da waren. Wahnsinn.

Ich bin in dieser Nacht noch mehrmals sprichwörtlich über die Mauer gesprungen, bin am Checkpoint Charlie beklatscht und als Ossi empfangen worden und ich habe am Ku'damm mit wildfremden Menschen gefeiert. Um fünf Uhr früh kehrten wir zu zweit heim. Während wir uns vor der Haustür küssten, tuckerte zum ersten Mal ein Trabi übers Kopfsteinpflaster unserer Straße. Wahnsinn.

Im Labor der Einheit

Mein Leben ist durch die Ereignisse des 9. November 1989 geprägt. Nicht nur, weil ich seit dieser Nacht mit meinem Mann zusammen bin und mit ihm zwei wunderbare Kinder bekommen und großgezogen habe. 

Mein Mauersprung hat vor allem vorweggenommen, was mich seither begleitet: Ich habe mich in den vergangenen 30 Jahren meist zwischen West und Ost bewegt. Im Frühjahr 1991, nur wenige Monate nach der Vereinigung, habe ich als Redakteurin bei der damals größten seriösen Tageszeitung Berlins, der Berliner Zeitung, angefangen – als eine der ersten Wessis. Das Blatt, für das ich mehr als 25 Jahre gearbeitet habe, galt lange zu Recht als ein Labor der Einheit. Mit allem, was dazu gehört: Die Belegschaft war, und ist es bis heute, ein gemischtes Team, das sich im besten Sinne aneinander reibt und durch die unterschiedlichen Erfahrungen ergänzt. In den frühen 90er Jahren hat das Blatt für die Ost-Berliner die vielen unbekannten Regeln des Westens erklärt und den Systemwechsel begleitet; für neugierige West-Berliner Leserinnen und Leser war es so etwas wie der Schlüssel zum Osten.

Es gab in der Redaktion Ost-West-Konflikte, es gab Besser-Wessis und Jammer-Ossis, Stasi-Affären und die mühsame, aber lohnende Debatte der Aufarbeitung, es entstanden Freundschaften und Rivalitäten, es gab Missverständnisse und meistens eine ungemein kreative Zusammenarbeit. Wir erlebten Übernahme, Ausschlachtung und Vernachlässigung durch westdeutsche und internationale Besitzer, Jahre des Aufbruchs und des Abschwungs, den selbstbewussten Austausch und die Identifikation mit einer Zeitung, die den Wandel Berlins zur Metropole kritisch beobachtet hat.

Heute arbeite ich am MDC – und auch hier habe ich das Gefühl, eine ähnliche Labor-Atmosphäre zu erleben. Auch hier haben Menschen aus Ost und West zusammen etwas ganz Besonderes geschaffen – und dabei junge Forscherinnen und Forscher aus der ganzen Welt nach Berlin geholt. Das wäre ohne den Fall der Mauer nicht möglich geworden.

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