Sabine Oertelt-Prigione

„Das Thema Machtmissbrauch und Belästigung ist kein Tabu mehr“

Die Anti-Harassment-Taskforce hat ihr erstes Ziel erreicht. Sie hat seit Januar eine Richtlinie zum Umgang mit Mobbing, Belästigung und Diskriminierung am MDC erarbeitet. Nun wird das Konzept dem Vorstand übergeben. Zum Abschluss sprachen wir mit Moderatorin Professor Sabine Oertelt-Prigione.

Die Anti-Harassment-Taskforce hat ihre erste Aufgabe abgeschlossen und übergibt in dieser Woche ihre Empfehlungen an den Vorstand. Mehr als 50 Beschäftigte haben sich beteiligt. Sie haben den Prozess moderiert und begleitet. Wie ist Ihre Bilanz?

Die Gruppe hat drei wichtige Papiere vorgelegt, es war ein wirklich erfolgreicher Prozess. Die Taskforce ist ja nach einem Centrums-weiten Aufruf zusammenkommen, viele Freiwillige sind beteiligt und so ist sie sehr bunt zusammengesetzt. Alle Statusgruppen sind vertreten: TAs, Sekretärinnnen, PhDs, PostDocs, Arbeitsgruppenleiterinnen und Arbeitsgruppenleiter, Menschen aus Administration wie Wissenschaft und auch der Personalrat. Und alle nutzen bis heute ihre Chance, sich einzubringen. Eine tolle Errungenschaft! Als Externe habe ich nur zu Beginn einen Anstoß gegeben, die Taskforce hat rasch selbst entwickelt, was für das MDC funktioniert.

Was war konkret die Aufgabe?

Eine Vorgehensweise zu entwickeln für den Fall von sexueller Belästigung. Es hat sich aber schnell herausgestellt, dass Belästigung nur ein Teil von etwas Größerem ist. Wir haben uns also auch mit anderen Grenzüberschreitungen beschäftigt. Die Taskforce wollte für das MDC und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen Rahmen entwickeln, in dem festgelegt wird, was im Fall von Diskriminierung, Machtmissbrauch oder Belästigung passiert: Wie geht man damit um? Was sind die Rechte von Beschäftigten? Und: Was kann das MDC tun, um solche Vorfälle zu verhindern?

Was jede und jeder wissen sollte

Was hat die Taskforce in dem halben Jahr erarbeitet?

Drei Gruppen und mehrere Plenarrunden haben in einem sehr konstruktiven und transparenten Dialog drei Dokumente erarbeitet: ein Leitfaden für das MDC; ein Flow-Chart, also eine Art Ablaufplan, was geschehen soll, wenn etwas vorgefallen ist; und das dritte ist ein Katalog von möglichen Präventionsmaßnahmen. Das alles ist selbstverständlich mit der Rechtsabteilung abgestimmt worden.

Lassen Sie uns über den Flow-Chart sprechen. Für wen ist der Ablaufplan gedacht? Das vorgesehene Prozedere wirkt sehr bürokratisch…

Es wird davon noch eine übersichtliche, vereinfachte Variante geben. Die sollten wirklich alle kennen: An wen kann ich mich wenden? Was habe ich zu erwarten? Was sind meine Rechte? Diese drei Informationen sollten alle am MDC kennen. Beim Onboarding sollte jede und jeder Neue diese Kurzversion und den Leitfaden erhalten. In der kurzen Übersicht wird man klar erkennen, dass es vor allem um Beratung und Mediation geht. Erst wenn all dies nicht funktioniert, kommt der rechtliche Teil zum Tragen.

Transparentes Verfahren

Und wofür ist der ausgefeilte Ablaufplan gedacht?

Diese Version ist intern enorm wichtig für alle offiziellen Anlaufstellen und für die andere Stellen am MDC, die rat geben. Es ist aber auch hilfreich für diejenigen, die Unterstützung suchen. Der detaillierte Plan erläutert sämtliche Möglichkeiten, wie es weitergehen kann, wenn ich mich beschwere. Solche klaren Abläufe sind wichtig. Denn solange das Verfahren nicht absolut transparent ist, melden sich viele Betroffene nicht. Sie haben Angst, einen riesigen Prozess loszutreten, obwohl sie vielleicht zunächst nur Rat suchen. Das belegen meine Erfahrungen an der Charité und in den Niederlanden. Deshalb zeigt der Plan die offiziellen und die niederschwelligen Kontaktstellen, also den Personalrat oder der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte ebenso wie auch PhD-Repräsentanten oder andere Vertrauenspersonen.

Wann raten Sie, externe Beratung oder Beschwerdestellen außerhalb des MDC aufzusuchen?

Das ist vor allem sinnvoll, wenn hohe Führungskräfte involviert sind. Dann können die internen Stellen nämlich nicht mehr unabhängig agieren. Ich glaube aber, dass meist keine externe Beratung nötig ist. Oft lässt sich ein Problem durch Mediation lösen, und da hilft Kenntnis der Strukturen, der Abteilungen, der Labors.

Wie verpflichtend sind die vorgeschlagenen Leitlinien?

Eine Bemerkung vorweg: Selbstverständlich gibt es bereits einen rechtlich gültigen Rahmen – das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das für viele Formen der Diskriminierung zutrifft. Es ist verbindlich in Deutschland. Die MDC-Leitlinien gehen darüber hinaus. Sie sind eine freiwillige, interne Verpflichtung, die festlegt, was am Zentrum akzeptabel ist und was nicht. Es definiert, was wir unter Belästigung, Bullying, Diskriminierung oder Machtmissbrauch verstehen. Der Grundgedanke lautet - ich zitiere hier mal wörtlich: „Weder Ethnizität, Herkunftsort, Hintergrund, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Religion, Behinderung, Alter oder Weltanschauung sollten zu persönlichen oder beruflichen Nachteilen führen. Das MDC verpflichtet sich, Prävention, Information und Unterstützung konsequent zu gewährleisten und lehnt jedes Verhalten ab, das die Würde seiner Mitarbeiter verletzt.“ Beschrieben werden dann auch die Verantwortlichkeiten der einzelnen und der Führungskräfte sowie mögliche Konsequenzen wie Verweise, Versetzung bis hin zur Entlassung.

Will die Taskforce manchmal nicht zu viel – wenn sie zum Beispiel von einem Leitfaden für Denken und Handeln spricht?

Natürlich kann niemand kontrollieren, was die Leute denken. Im Dokument wird aber an vielen Stellen deutlich, dass in der Taskforce sehr verschiedene Menschen zusammenkommen sind mit unterschiedlichen Perspektiven und vielleicht auch ganz unterschiedlichen kulturellen Erwartungen und Vorstellungen von der Arbeit oder dazu, was im Umgang miteinander alles geregelt werden kann, geregelt werden soll oder geregelt werden darf. All diese Unterschiede kommen in der Leitlinie zum Tragen. Das war eben das Tolle: Es wurde der Kompromiss gefunden!

Aber lässt sich jede menschliche Begegnung verregeln? Wo bleibt die Freiheit?

Diese Fragen waren durchaus präsent. Ich würde sagen: Je vulnerabler die Statusgruppe, desto mehr Regelwerk wünscht sie sich. Wenn ich verletzbar bin, brauche ich mehr Schutz. Es gab auch Debatten darüber, wie man mit Liebesbeziehungen am MDC umgehen soll: Was sollte offengelegt werden? Das blieb am Ende ungeklärt. Wir haben das der Rechtsabteilung überlassen.

Schulen, informieren, sammeln

Kommen wir zur Prävention. Was schlagen Sie bzw. die Taskforce vor?

Auch hier sehen Sie wieder drei Blöcke: Schulungen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und vor allem für Führungskräfte, Bystander-Trainings und Vorträge etwa zum Thema „Was ist Diskriminierung, wie erkenne ich sie?“ Relevant ist hier, dass alle Führungskräfte über ihre Führsorgepflicht Bescheid wissen und Diskriminierung erkennen. Sie müssen wissen, was sie tun und wie sie helfen können. Führungskräfte haben die Pflicht, die Betroffenen zu schützen. Im zweiten Block der Präventionsmaßnahmen geht es um Information: Wie werden die elementaren Infos zum Thema bekannt gemacht - mit Flyern, Veranstaltungen, Postern, im Intranet? Denkbar sind außerdem Sensibilisierungskampagnen. Das Dritte ist die langfristige Sammlung und Evaluation von Daten, auch durch anonyme Umfragen. Ziel ist es, herauszufinden, welche Gruppen besonders betroffen sind.

Was ist, wenn jemand nicht bei den Schulungen mitmacht?

Das muss am MDC festgelegt werden. Aus meiner Sicht sollten die Fortbildungen für Führungskräfte verpflichtend sein. Hier ist der Vorstand gefordert.

Wie geht es jetzt weiter?

Die Taskforce übergibt das Ergebnis nun dem Vorstand. Der wird manches kommentieren oder möglicherweise ändern wollen. Ich erwarte aber nicht, dass er massiv eingreifen wird. Das wäre jedenfalls strategisch unklug. Die Antwort geht dann nochmal zurück an die Taskforce. Unser Ziel ist, dass das vorgeschlagene Verfahren und die Leitlinien ab 1. Januar 2020 in Kraft treten. Nach und nach muss außerdem geklärt werden, wie die Vorschläge in die Standardabläufe am MDC integriert werden - ins Onboarding, ins Recruitment, in die Führungskräftefortbildung, in die Informationspolitik. Generell gilt: Dieses Dokument ist nicht in Stein gemeißelt und wird auch über die Jahre evaluiert und angepasst werden.

Und was ist mit einem allgemeinen Code of Conduct?

Das ist schwer abzugrenzen. Die übergreifenden Prinzipien, die ethisch-moralischen Grundlagen, sind gleich, egal ob es um Belästigung oder Machtmissbrauch, um allgemeine Führungsprinzipien oder gute wissenschaftliche Praxis geht. Vielleicht kann unser Vorgehen ein Beispiel geben, wie der große Prozess um die MDC-Culture laufen könnte.

Hat die Arbeit der Taskforce aus Ihrer Sicht zu einer Sensibilisierung am MDC geführt?

Unbedingt. Das Thema ist aus der Tabu-Ecke geholt worden. Das allein schon verändert den Diskurs. Ich vermute sogar, dass die Zahl der angezeigten Fälle oder der Ratsuchenden steigen wird. Das wäre sogar ein positives Zeichen. Denn es würde bedeuten, dass am MDC nun eher über Diskriminierung oder Belästigung gesprochen werden kann.

Was darf auf keinen Fall passieren?

Das Ergebnis darf auf keinen Fall ignoriert werden. Das Schlimmste, was nach partizipativen Prozessen vorkommen kann, ist, dass hinterher nix passiert. Klar ist aber auch: Bis alles umgesetzt sein wird, wird viel Zeit vergehen. Mit den Fortbildungen und Informationen kann es sicherlich bald losgehen. Aber bis das Thema in der Kultur eines Zentrums wirklich spürbar verankert ist, werden - ich wage mal eine Prognose - drei Jahre vergehen.

Das Gespräch führten Jana Schlütter und Jutta Kramm.

Zur Person

Sabine Oertelt-Prigione

Prof. Dr. med. Sabine Oertelt-Prigione, MScPH, hat seit Sommer 2017 den Lehrstuhl für Gendermedizin an der Radboud Universität in Nijmegen, Niederlande, inne. Außerdem ist sie weiterhin wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Rechtsmedizin der Charité.

Von 2009 bis 2016 arbeitete die Professorin als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berliner Institut für Geschlechterforschung in der Medizin (GiM). Zuvor hatte sie Medizin an der Universitá degli Studi in Mailand studiert, wo sie auch ihre Weiterbildung in der Inneren Medizin im Jahre 2008 abgeschlossen hat. 2004 bis 2006 arbeitete Frau Oertelt-Prigione als Postdoc an der University of California in Davis und untersuchte hier den Einfluss von geschlechtsspezifischen Faktoren auf Autoimmunität. 2012 erhielt sie ihren Master of Public Health von der University of London und der London School of Hygiene & Tropical Medicine. Sie promovierte und habilitierte an der Charité – Universitätsmedizin. Ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen in der Untersuchung des Einflusses von Genderaspekten in Prävention und Implementierung in der Medizin. Sie war für die Entwicklung der ersten internationalen Datenbank für Gendermedizin „GenderMedDB“ verantwortlich und ist zusammen mit Vera Regitz-Zagrosek Herausgeberin eines der ersten Fachbücher im Feld – „Sex and Gender Aspects in Clinical Medicine“, das basierend auf diesem Projekt entstand.

Gemeinsam mit Sabine Jenner, Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte an der Berliner Charité, hat sie in der Studie Watch Protect Prevent (WPP) zur Prävention sexueller Belästigung an der Charité - Universitätsmedizin untersucht, was Institutionen, Betriebs- bzw. Personalräte und Arbeitgeber gegen diesen Missstand tun können. Dafür haben sie unter anderem in Kooperation mit der Hans-Böckler-Stiftung 120 betriebliche Vereinbarungen aus dem öffentlichen Dienst, der Industrie und dem Dienstleistungssektor ausgewertet. Die Auswertung war Teil des mehrjährigen WPP-Projekts.​​​​​​