Inga Patarčić

Was lesen Sie gerade, Frau Patarčić?

Inga Patarčić, promovierte Bioinformatikerin und Molekularbiologin, arbeitet als Forschungsdatenmanagerin am Max Delbrück Center. Die gebürtige Kroatin empfiehlt ein Buch, in dem es um Buddhismus geht und um Philosophie, aber auch um Egoismus in der Forschung und um Open Science.

Es ist schwer ist, ein einzelnes lesenswertes Buch zu empfehlen (in diesem Fall würde ich wahrscheinlich zu „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“ von Yuval Noah Harari raten). Stattdessen empfehle ich hier, was ich aktuell lese. Ein Buch, das mich äußerst fasziniert. Es ist, als ob der Weg, auf dem ich mich befinde, mich zu diesem Buch geführt hätte. Vielleicht hat es auch mich ausgewählt.

Das Buch „Uncompromising Truth for a Compromised World: Tibetan Buddhism and Today’s World“ dokumentiert Gespräche mit Samdhong Rinpoche. Er ist der erste gewählte Premierminister der tibetischen Exilregierung. Samdhong wird wegen seines herausragenden Beitrags zur tibetischen Gesellschaft als Gelehrter, Lehrer und Philosoph geachtet. Donovan Roebert hat das Buch verfasst und in fünf Teile unterteilt. Das erste Kapitel behandelt Themen wie Kultur, Gesellschaften, Philosophie, Recht, Religion, Spiritualität, Kunst, Wissenschaft usw. In weiteren Kapiteln vertiefen die Dialoge Themen wie Macht, Gewalt und Krieg, Umweltzerstörung, Tibet und verschiedene Bereiche des Buddhadharma.

An dieser Stelle möchte ich einige der Gedanken zum Thema Wissenschaft teilen:

„Wenn Wissenschaftler Forschung betreiben, denken sie nicht, dass das, was aus dieser Untersuchung hervorgeht, allgemeines, öffentliches Wissen ist. Stattdessen sagen sie, wenn ich dies entdecke, gehört es mir. Diese Diskussion über geistiges Eigentum passt nicht gut zu unserer (tibetisch-buddhistischen) Kultur. Wenn wir etwas finden, teilen wir es mit allen. Und Wissen ist universell. Der Versuch, Wissen zu individualisieren, zeigt, dass die Forschung egoistisch ist (...) Jetzt werden sogar Menschen als Ressource betrachtet. Aufgrund dieser Haltung habe ich den Glauben an die moderne Wissenschaft verloren.“

Kommt Ihnen dieses Konzept bekannt vor?

Eine Anmerkung: Dieses Buch wurde im Jahr 2006 geschrieben, also einige Jahre bevor die Open-Science-Bewegung an Fahrt aufnahm. Heute sind Wissenschaftler*innen dem Druck von oben ausgesetzt, ihre Forschung offener zu gestalten, sei es durch Open-Access- und Open-Peer-Review-Publikationen, Open-Data- und Open-Software-Initiativen oder durch die Anforderungen von Verlagen und in Bezug auf offene Materialien, offene Protokolle und registrierte Berichte.

Wissenschaftliche Erkenntnisse, insbesondere Daten, für alle offen zugänglich machen – dieses Anliegen ist eng verknüpft mit meiner aktuellen Position als Datenmanagerin für die Forschung. Ich bin fest davon überzeugt, dass eine erhöhte Zugänglichkeit zu Wissen, mehr Transparenz, gesteigerte Reproduzierbarkeit und eine breitere globale Zusammenarbeit in der Wissenschaft die Innovation beschleunigen, die Effizienz der Forschung steigern und wirtschaftliche Vorteile bringen werden. Denn so kann man vermeiden, Forschungsarbeiten zu duplizieren. In meiner aktuellen Position kann ich diese Bemühungen aktiv unterstützen. Und vielleicht werden eines Tages mehr Menschen der modernen Wissenschaft vertrauen.

Das Buch geht auf viele Themen ein. Aber hier will ich nur diejenigen erwähnen, die sich auf die Wissenschaft beziehen:

„Ich denke, hier besteht eine Möglichkeit: Wissenschaftler können eine Menge durch Spiritualität lernen. Vor allem können sie lernen, dass sie die Grenzen des gewöhnlichen Verstandes kennen sollten. (...) Sie sollten akzeptieren, dass der gewöhnliche menschliche Verstand begrenzt ist, und wenn sie dies nicht einfach akzeptieren können, sollten sie sich entsprechende Experimenten machen, so wie sie es in anderen Fällen tun. Sie sollten zwei oder drei Jahre lang Meditation praktizieren, um ihren Verstand zu schärfen, und dann in ihre Labore zurückkehren und entdecken, wie anders sie die Dinge verstehen könnten. Die Möglichkeit der Entwicklung des menschlichen Verstandes und die Unmöglichkeit, das Höchste mit dem gewöhnlichen menschlichen Verstand zu sehen: diese beiden Dinge müssen sie von der spirituellen Tradition lernen. (...) Während sich die Wissenschaft entwickelt, ist die Spiritualität bereits vollständig da. Und wenn die beiden sich treffen, wird das der Tag sein, an dem die Menschheit eine neue spirituelle Wiedergeburt erleben wird. Und vielleicht wird das auch geschehen."

Man stolpert nicht zufällig über ein solches Buch, oder?

„Uncompromising Truth for a Compromised World“ offenbarte sich mir vor wenigen Tagen in einem wunderbaren Geschäft in der Charles Street in Boston. Ich war dienstlich in die USA gereist, ohne meine üblichen Lesebegleiter, und hatte erwartet, dort eine geeignete Lektüre zu finden.

Warum also gerade dieses Buch?

Um ehrlich zu sein, kann ich keine endgültige Antwort geben. Aber ich habe eine Theorie. Dieses Buch ist anscheinend ein Versuch, eine Frage anzugehen, die seit diesem Sommer in meinem Kopf spukt: „Wie kann man eine Vipassana-Meditationspraxis in einer alltäglichen, 'gewöhnlichen' Welt aufrechterhalten?“

Im August habe ich an einem zehntägigen schweigenden Vipassana-Retreat teilgenommen – eine Erfahrung von zehn Tagen ohne Kontakt zur „Außenwelt“, ohne Lesen, Schreiben und sogar Sprechen. Um es klarzustellen: Das Retreat wird von einer engagierten Gruppe von Freiwilligen organisiert, die sich um Essen und Unterkunft kümmern und somit ein gutes Umfeld für die Meditation schaffen. Nach dieser bereichernden Erfahrung steht man fortlaufend vor der Herausforderung, wie man eine solche Praxis in den Alltag integrieren und die höchsten moralischen Prinzipien aufrechterhalten kann.

Die Antwort, davon bin ich überzeugt, wird sich in der praktischen Anwendung entwickeln. Aber im Moment dienen mir Rinpoches Dialoge als hilfreiche Anleitung auf meiner Reise.

Donovan Roebert: „Samdhong Rinpoche: Uncompromising Truth for a Compromised World: Tibetan Buddhism and Today's World.“ World Wisdom Books, 2006.