Zeitzeugen: Jens Reich erinnert sich an den 4. November

Der 4. November 1989 ist für den MDC-Molekularbiologen und DDR-Bürgerrechtler Prof. Jens Reich (75) „ein großer Tag der Demokratiegeschichte“; und das, obwohl seine Auswirkungen gleich Null geblieben seien. An diesem Tag fand die legendäre Alexanderplatz-Demonstration statt, bei der fast 30 Redner teils unter Beifallsstürmen, teils ausgepfiffen ihre Vision für eine demokratische Erneuerung der DDR vortrugen. Jens Reich sagt: „Das war ein großes Fest“, er habe eine „fröhliche Offenheit des Volkes“ und eine „Kreativität des Feierns“ wahrgenommen. Und doch: „Wir waren Sänger der untergehenden DDR.“ Jens Reich erzählt davon in einem Interview, das für das Zeitzeugen-Projekt des Max-Delbrück-Centrums entstanden ist.

Im Rahmen der demokratischen Erneuerung sei auch nach dem Mauerfall noch viel passiert, berichtet Reich: So habe es große Demonstrationen gegeben, Stasi-Zentren seien in vielen Städten gestürmt worden. Reich: „Es gab in der ganzen DDR spontane Aktionen, runde Tische, in denen Ordnung geschaffen wurde, ganz viel Volksherrschaft, anarchische Volksherrschaft.“ Gleichwohl hat der Forscher und Ethiker Jens Reich gemischte Gefühle, wenn er sich an die Zeit vor 25 Jahren zurückerinnert: Der Mauerfall war für ihn „ein glücklicher Tag, an dem sich der Käfig endlich öffnete“, verbunden mit einem Gefühl von Befreiung und Freiheit. Aber: „All die Illusionen, die wir am 4. November hatten, fielen flach.“ Unter dem Text sehen Sie den Link zu der 9-minütigen Sequenz zu den Ereignissen in den Novembertagen 1989 und den Monaten danach.

Geplant ist in unserem Zeitzeugenprojekt, frühere Forschergenerationen erzählen zu lassen, wie sie am Standort Berlin-Buch lebten und arbeiteten, um die Geschichte des Max-Delbrück-Centrums lebendig werden zu lassen. Das MDC ging aus Zentralinstituten der Akademie der Wissenschaften der DDR hervor, die jahrzehntelang translationale Medizin betrieben hatten, indem sie patientennahe klinische Forschung mit molekularbiologischer Grundlagenarbeit verbanden. Diese wichtige Forschungsstätte der DDR in Berlin-Buch wurde Vorbild für das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg. Es ist eine interessante Volte der Geschichte, dass das DKFZ-Konzept nach dem Mauerfall quasi re-importiert wurde und so 1992 das MDC entstand.

In der nächsten Folge werden Sie Krebsforscher Prof. Heinz Bielka (85) hören, wie er den Mauerfall erlebt hat. Hier aber nun der versprochene Videoclip mit dem 9-Minuten-Interview von Jens Reich:


Beitragsbild: Hunderttausende Bürger beteiligten sich an einer Demonstration, zu der Berliner Kunst- und Kulturschaffende ins Zentrum der Hauptstadt eingeladen hatten. Der Zug wurde von einer Fülle von Transparenten, Schildern und Spruchbändern beherrscht. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1989-1104-437 / Settnik, Bernd / CC-BY-SA